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Jenz Steiner - Wenn Liebe stärker ist als die finstersten Zeiten - Nora Goldenbogen spricht mit Jenz

Jenz Steiner - Wenn Liebe stärker ist als die finstersten Zeiten - Nora Goldenbogen spricht mit Jenz

Jenz SteinerJenz Steiner

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Netty und Hellmut Tulatz aus Dresden haben das KZ Sachsenhausen , den Todesmarsch im Frühjahr und die letzte Phase der Verfolgung jüdischer Menschen 1945 überlebt. Nach den Jahren der Trennung, den Jahren der NS-Herrschaft haben sie 1946 wieder zueinander gefunden. Ihre Tochter Nora Goldenbogen hat die Geschichte ihrer Eltern nachrecherchiert. Sie hat Fakten gecheckt, Archive kontaktiert und die Stationen auf dem Lebensweg ihrer Eltern aufgesucht: Paris,Bukarest, Sachsenhausen.

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It is shortly before Christmas, and I am walking through the city center of Dresden. I am on my way to meet Nora Goldenbogen, who has written a book about the history of her parents. The book tells the story of Netti and Helmut Tullertz, two people who found each other again despite fascism, exile, and concentration camps. Nora Goldenbogen spent years researching and writing this book, using the time she had during the COVID-19 pandemic. The book explores not only her family's history but also the larger European, Jewish, German, and Dresden history. Nora Goldenbogen's parents were both left-wing individuals who came from different backgrounds. They met in exile in France and went through many hardships together before reuniting in Dresden. Nora Goldenbogen's father, Helmut Tullertz, experienced the horrors of Sachsenhausen concentration camp, and her mother, Netti, endured the persecution of Jews in Romania. Nora Goldenbogen embarked on this Es ist kurz vor Weihnachten, kurz vor Hanukka. Ich laufe durch die Dresdner Innenstadt. Es ist sehr, sehr kalt, schneidend kalt, sodass mir die Hände fast wehtun, wenn ich das Mikrofon halte. Ich bin auf dem Weg zu Nora Goldenbogen. Sie hat ein Buch geschrieben über die Geschichte ihrer Eltern. Dieses Buch ist mehr als nur ein Stück Familiengeschichte. Es ist gleichzeitig auch ein Stück europäische, jüdische, deutsche und Dresdner Geschichte. Darüber werde ich mich mit ihr heute unterhalten. Jetzt muss ich nur noch die richtige Klingel finden. Ja, hallo? Ist offen. Ich komme hoch. Kleiner Transparenzhinweis gleich am Anfang. Die Stimme aus der Gegensprechanlage gehört Schlomo. Für mich ist er Schlomo. Er ist Sendungsmachender bei Colloradio und in den letzten Jahren hier in Dresden auch Freund und Ratgeber geworden. Andere kennen ihn als Dr. Sigurd Goldenbogen, als ehemaligen Verleger. Nora Goldenbogen ist seine Frau. Durch ihn kam der Kontakt zu Nora Goldenbogen erst zustande. Seit ich weiß, dass du lebst. Liebe und Widerstand in finsteren Zeiten heißt ihr Buch. Nora Goldenbogen zeichnet darin die Lebenswege ihrer Eltern Netti und Helmut Tullerts nach. Zwei Menschen, die trotz Faschismus, Flucht, Exil und Konzentrationslager wieder zueinander finden, obwohl nichts dafür spricht, dass sich die Wege des Paares jemals wieder kreuzen. Netti und Helmut Tullerts Otschitschorne Alles, was Gott uns Gutes im Leben gegeben hat, habe ich geopfert, für diese feurigen Augen, heißt es da. Nora Goldenbogen Nora Goldenbogen wurde vier Jahrzehnte nach dem Tod ihrer Eltern zur Chronistin der Liebes- und Leidensgeschichte des Paares. Die engagierte Dresdnerin nutzte die gewonnene Zeit der Corona-Krise zur Recherche und zum Schreiben. Das zivilgesellschaftliche Leben stand still in der Zeit. Auch in der Dresdner jüdischen Gemeinde, auch im jüdischen Kulturverein Hatikva, denen Institutionen, für die sich Nora Goldenbogen sonst so intensiv einsetzt. Ich treffe sie in ihrer Wohnung in der Dresdner Altstadt. Nicht zum ersten Mal, aber das erste Mal für ein so umfangreiches Gespräch. Ihr Wohnhaus stammt aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, einer Zeit der Hoffnung und des Neuempfangs in der DDR. Alles wirkt schlicht, geräumig, mit Fahrstuhl und großem Hof. Die Birken vor den Fenstern sind so alt wie das Haus selbst. In diesen 50er Jahren DDR-Neubauten kann man noch ganz nach oben gucken. Es gibt noch diese klassischen Fahrstühle mit Fenster. Beim Betreten der Wohnung der Goldenbogens geht es wahrscheinlich allen Gästen der Familie wie mir. Zuerst fällt der Blick auf eine Bleistift-Porträtzeichnung von Ernst Thälmann, KPD-Vorsitzender in der Weimarer Republik. Opfer der Nazi-Zeit und Held seiner Kindheit in der DDR. Dann an der Wand gegenüber eine weitere Zeichnung, viel dezenter, mit hebräischer Schrift. Nachdem wir lange und ausgiebig über den Schauspieler Kurt Böwe, über Christa Wolf, Stefan Heim, über die Autorinnen und Autoren gesprochen haben, die ihre wie meine Bücherregale füllen, will ich zuerst von Nora Goldenbogen wissen, was es mit diesen Zeichnungen links und rechts der Wohnungstür auf sich hat. Auf der einen Seite haben wir eine Bleistift-Zeichnung von Ernst Thälmann und das kommt von meinen Eltern, von meinem Vater direkt. Er hat es nicht gezeichnet, sondern er hat es irgendwann geschenkt bekommen. Und die war immer in der Wohnung meiner Eltern und ich weiß um die nicht nur positive Geschichte Ernst Thälmanns und auch der KPD, aber wir haben es behalten, weil wir sagen, es war einfach ein Mann, der symbolisiert hat eine bestimmte Phase in der Geschichte der deutschen Linken und vor allen Dingen auch in der Phase der Nazi-Zeit. Also egal was man jetzt über Ernst Thälmann heute sagt, letztendlich war er eine Symbolfigur und ist ja 1944 in Buchenwald umgebracht worden, erschossen worden. Und das Bild gegenüber von Thälmann, das mit so sanften Strichen gezeichnet scheint, mit der hebräischen Schrift, was es dazu zu erzählen gibt, will ich auch von Nora Goldenbogen wissen. Und auf der anderen Seite, das ist etwas, was wir von einem Freund, von einem guten Freund geschenkt gekriegt haben, das ist eine Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert zum Schabbat, also die sieben Tage und der siebte Tag, der also der Ruhe dient, mit dem Zitat aus dem Thora. Und mein Mann und ich, wir fanden das ganz wunderschön und da haben wir uns sehr gefreut. Das hat er uns aus Jerusalem mitgebracht und da ist es jetzt genau auf der anderen Seite und zeigt, wo wir hingehören. Das merkt er an mehreren Stellen in unserer Wohnung. Und wir sind eigentlich in dieser Tradition, also schon auch unsere Kinder jetzt, dass wir der Meinung sind, das passt zusammen. Es gab eine Zeit, da musste ich das in Größenordnung verteidigen. Da musste ich verteidigen, wieso ich jemand bin, der, wenn man so will, Eltern hat, die in der linken Tradition standen. Warum ich bis heute auch nicht, ich sag mal so, eine 180-Grad-Wendung, sondern bis heute sage, nein, es gab eine ganze, und es gibt Gründe, warum man so denken kann und so denken muss, ohne dass man da irgendwas verniedlicht und sagt, nee, das ist jetzt alles schlecht, das habe ich ja versucht vorhin schon mit den Schriftlern zu sagen, sondern es ist etwas, was sichtbar wird, auch jetzt in unserer Welt, dass es andere Antworten geben kann und andere Antworten geben muss. Und auch im jüdischen Kontext und in der jüdischen Welt gab es immer eine große Gruppe, die auch solche Ideen verbunden hat. Also das ist durchaus nicht unnormal. Bis nach Israel, und wenn man so die Zeit, die ich auch in dem Buch beschrieben habe, da gab es wirklich viele. Und wenn man sich anguckt, auf die deutsche Emigration, wie viele linke jüdische Menschen dabei waren. Das ist schon überhaupt nicht selten. Und das sind übrigens die meisten aus der großen Gruppe der jüdischen Emigranten, die hier in den Osten zurückgekommen sind. Von Bloch über Meier bis zur Arbusch und wie sie alle hießen. Und das scheint aus meiner Perspektive schon das Fundament für Nora Goldenbogens Buch zu sein. Zeit für mich bei ihr nachzuhaken. Wer waren Netti und Helmut Tullertz? Meine Eltern waren beides Linke, kamen aus ganz unterschiedlichen Kulturen. Meine Mutter kam aus einer rumänischen jüdischen Familie und mein Vater aus einer dritten Arbeiterfamilie. Sie haben sich im Exil in Frankreich kennengelernt und ab dort sind sie gemeinsam durch die Zeit gegangen. Und aufgrund verschiedener Tatsachen, die im Exil passierten, erst in Frankreich und dann auch in Rumänien, wo sie mehrere Jahre zusammen gelebt haben, ist mein Vater denunziert von der Gestapo, eingesperrt worden, war in Sachsenhausen, hat den Todesmarsch mitgemacht. Und meine Mutter hat die letzte Phase der Judenverfolgung in Rumänien erlebt, die aber dann anders lief als in anderen europäischen Ländern. Wiedergefunden haben sie sich ab 1946 durch Suchbriefe, die dann am Ende ihr Ziel fanden. Und ab Ende 1946 haben sie beide hier in Dresden zusammengelebt und haben hier, wenn man so will, ein relativ normales Leben gehabt, obwohl mein Vater auch nochmal in diese stalinistische Phase der SEDs hineingekommen ist. Und da hat er auch Konsequenzen tragen müssen mit Arbeitslosigkeit und so weiter. Aber am Ende, denke ich, war es, wenn man so will, auch eine ganz normale Geschichte, die hier in der DDR zu Ende ging. Sie sind 1982 gestorben. An dieser Stelle im Gespräch merke ich, dass ich ganz schön viele Fragen habe. Der Fahrplan, den ich im Kopf hatte, verschwimmt. Was hat Nora Goldenbogen bewogen, dieses Buch zu schreiben? Wie geht man so ein Marmutprojekt an, das so stark verflochten ist mit der eigenen Vergangenheit und Persönlichkeit? Was braucht es dazu? Hierfür brauchte ich Zeit. Und ich habe sehr viele Jahre den Vorsitz der jüdischen Gemeinde hier in Dresden gehabt und in den letzten seit fünf Jahren jetzt auch den Vorsitz des Landesverbandes. Viele Jahre habe ich außerdem noch bei HADIKWA gearbeitet und habe auch den Verein eine ganze Weile ehrenamtlich mitgeleitet und alle die Dinge. Ich habe einfach keine Kraft und keine Zeit gehabt. Den Plan hatte ich schon eher, eigentlich schon wenige Jahre nach dem Tod meiner Eltern, weil ich auch viele Dokumente von ihnen hatte. Aber geschafft habe ich es eben erst vor drei Jahren. Und wie es so heute mit vielen Dingen geht, die Chance bestand, das klingt komisch, aber das trifft ja für viele zu, 1920 mit dem Lockdown. Der erste Lockdown, plötzlich war man zu Hause. Das Telefon klingelte nicht mehr sehr, weil alle erstmal mit sich selber beschäftigt waren. Und ich hatte schon viele Vorarbeiten gemacht für dieses Buch, weil ich es schon immer machen wollte, also wirklich schon viel länger. Und dann habe ich mich hingesetzt und angefangen zu schreiben. Und wenn ich das heute überlege, es ist mir überhaupt nicht schwer gefallen. Also es war eigentlich im Kopf schon da. Es gibt ja nun eine Basis, das ist das reale Leben der Eltern gewesen. An dem bin ich auch dran geblieben. Ich habe sehr viel Archivrecherche noch gemacht. Das ist Gott sei Dank heute viel leichter als früher. Man muss nicht mehr in die Archive fahren, sondern man kann ganz viel elektronisch machen. Und das war auch sehr schön, die Archive, die ich angeschrieben habe, haben mir alle geholfen. Also war wirklich auch eine große Bereitschaft hier, mich zu unterstützen. Sich an die eigene leidvolle Familiengeschichte zu setzen, war für Nora Goldenbogen nicht immer nur hart und belastend. Bei ihrer Recherche hat sie auch einen richtigen Glückstreffer gelandet. Diese Geschichte, warum die Eltern dann so verfolgt wurden und Vater dann auch in Haft kam zum Schluss, die kannten die ja nur. Das ist so wahr. Und mein Vater hat in seinem Lebenslauf beschrieben, dass es mit der deutschen Gesandtschaft in Bukarest zusammenhängt. Aber wie, war nicht klar. Und dadurch, dass ich mich dann mit der rumänischen Geschichte beschäftigen musste und dazu auch eine ganze Menge Literatur gelesen habe, bin ich auf dieses politische Archiv des Auswärtigen Amtes gekommen. Was ja wirklich hochinteressant ist, weil ich wusste gar nicht, dass es so ein Archiv gibt. Ernsthaft. Dann habe ich das gesehen, dann gab es dort auch schon Aktenbestände, die dort von anderen Historikern zitiert wurden. Und dann habe ich dort hingeschrieben und hatte ja nur ungefähr den Zeitraum, den Namen meines Vaters, den Zeitraum und ob es da was gibt. Und dann kriegte ich drei Tage später die Nachricht, dass es eine ganze Akte gibt. Einen ganzen Vorgang zur Geschichte meiner Eltern und meines Vaters, Helmut Tudertz. Wie fühlt man sich, wenn man als Historikerin und als Privatperson so einen Rechercheglückstreffer landet? Da habe ich mich gefreut. Absolut. Weil das ist so ein Pfund, den hast du nur immer im, wenn du sagst, es ist eine private Geschichte und du findest dann einen Vorgang in den Akten des Auswärtigen Amtes dazu. Das ist deutsche Gründlichkeit. Deutsche Gründlichkeit. Die spiegelt sich auch in den Beschreibungen der KZ-Zeit des Vaters in Sachsenhausen, die in Nora Goldenbogens Buch mit eingeschlossen sind. Es gibt Kapitel wie das über Sachsenhausen, das ist mir schwer gefallen. Nicht, dass ich es nicht schreiben konnte, weil ich ja oft wie Originalzitate meines Vaters vorhanden habe, aber es war anstrengend und hat mich auch ziemlich mitgenommen. Und genauso ging es mir beim Lesen. Hier ein kleiner Auszug aus den aufgezeichneten Erinnerungen von Helmut Tudertz. Ich war nur zwei Jahre im KZ und trotzdem überfällt es mich heute noch, oftmals scheinbar ohne Anlass. Für die, die es erlebt haben, ist es nicht vorbei, es kommt wieder. Nachts schreien sie im Schlaf. Die Vergangenheit ist zurückgekehrt. Bereits am Bahnhof Sachsenhausen wurden wir von der SS mit Knüppeln in der Hand, mit Hunden an der Leine, mit Getöse und mit Schlägen empfangen. Immer wieder wurde Laufschritt befohlen. Wer dem Tempo nicht folgen konnte, der wurde von Hunden angefallen, mit Schlägen zu stärkerem Tempo gezwungen. Der Empfang im Lager. In glühender Mittagshitze drei Stunden stramm stehen. Jede Bewegung wurde bestraft. Übernahme durch den Lagerführer. Befragung. Schläge. Warum? Irgendetwas hatte nicht gefallen. Oder war es doch die Methode für die Durchsetzung des Prinzips? Nämlich klein machen, fertig machen. Sklaven sollten wir werden. Sklaven für ihr tausendjähriges Reich. Den Willen brechen. Jeden selbstständigen Gedanken ausmerzen. Die Furcht musste jeden niederhalten. Schweigen und bedingungslos gehorchen. Deinen Namen solltest du vergessen. Zur Nummer wurdest du erklärt und nur als Nummer wurdest du angesprochen oder durftest du dich melden. Wenn einer starb, dann starb er als Nummer. Was ich mich an dieser Stelle frage, spielten diese Erinnerungen im Familienalltag in der DDR jemals eine Rolle? Er hat nicht erzählt. Er hat ganz wenig erzählt. Und wenn er erzählt hat, hat er eigentlich das erzählt, wo er der Meinung war, das sollte ich wissen, falls mir auch mal sowas passiert. Wie man Kraft sammelt und wie man sowas durchsteht. Das hat er erzählt, aber alle anderen nicht. Deswegen habe ich das hier auch so aufgeschrieben. Aber diese beiden Manuskripte, die ich dann gefunden habe, vor allen Dingen dieses, wo er eben doch viel über diese schlimmen Situationen spricht und schreibt, die kannte ich überhaupt nicht. Die waren beide handgeschrieben. Das eine war sogar schwer lesbar, mit Bleistift. Und man sieht auch, wie erregt er war, als er das aufgeschrieben hat. Das muss er wirklich 1945, 1946 aufgeschrieben haben. Und das Zweite hat er dann viel, viel später geschrieben. Aber man hat auch gemerkt, wie präsent das in ihm geblieben ist. Und wie stark er sich beschäftigt haben muss mit der Sache, dass das so präsent geblieben ist. Und das hat er ja dann auch beschrieben, dass er der Meinung ist, das trifft für alle, die das erlebt haben, zu. Und auf eine gewisse Art und Weise hat er das dann mir auch klar gemacht, warum so viele Überlebende von Nazi-Konzentrationslagern darüber nicht reden können. Das ist nicht, weil sie feige sind oder sowas, sondern weil ihm das unmöglich ist, das zu erzählen, aber ausschreien. Bei meinem Vater war es so. Aber da habe ich dann trotzdem nochmal mit der Leiterin des Archivs der Gedenkstätte einen Briefwechsel gehabt und sie nach bestimmten Dingen gefragt. Es gibt ja inzwischen noch viele Literatur über das Lager und Überlebendenberichte und das wollte ich machen. Das war auch gut so. Das war ein gewisses Maß an Sicherheit. Auch für mich, dass das, was mein Vater aufgeschrieben hat, mit dem übereinstimmt, was letztendlich aus der Geschichte anderer Überlebender und der Forschung bekannt ist. Was bei mir tiefe Spuren hinterlassen hat, war Nora Goldenbogens Schilderung ihres Besuchs in Sachsenhausen mit ihrem Vater und ihrem Onkel weit über zwei Jahrzehnte nach der KZ-Zeit, als Sachsenhausen schon eine Gedenkstätte war. Das eine habe ich ja in dem Buch geschildert. Da habe ich auch erklärt, dass mein Vater wirklich kaum darüber gesprochen hat. Und deswegen war das für mich so eindrücklich. Dieser Moment, als wir an der Station Z standen, da habe ich natürlich geahnt, dass da viel dahinter sein muss, was ich aber nicht weiß. Das ist übrigens auch ein Grund, warum ich dann so lange daran gearbeitet habe und gedacht habe, das musst du mal machen. Bis zu diesem Besuch in der ehemaligen Station Z in Sachsenhausen hat Nora Goldenbogen ihren Vater anders wahrgenommen. Er hat ihr Mut gemacht, Stärke gezeigt. Doch an diesem Ort hat sie ihn dann von einer anderen, von einer zerbrechlichen Seite kennengelernt. Wie ist sie damals als Tochter mit den Narben der Vergangenheit des Vaters umgegangen? Wir sind hingefahren. Da war auch mein Onkel dabei. Das habe ich in ihrem Buch nie geschrieben. Mein Vater und er kannten sich aus der Exilzeit in Paris. Und er war gekommen, weil die älteste Schwester meiner Mutter war gestorben. Und er hat uns dann besucht und ist auch länger geblieben. Und ich glaube, mein Vater ist dorthin gefahren auch seines Willens, weil er kannte die Geschichte meines Vaters und wollte das sehen. Ich bin mitgefahren. Bestimmt hat er gesagt, ich soll mitkommen, mein Vater. Das kann ich jetzt nicht so beurteilen. Aber wie gesagt, ich war nicht vorbereitet. Auf diesen Moment war ich überhaupt nicht vorbereitet. Ich habe immer gewusst, dass mein Vater dort war. Wir waren ja auch im Buchenwald mehrfach. Vorher, die Schulklasse kennst du ja sicher auch. Diese Dinge haben immer etwas Persönliches bei mir ausgelöst. Aber das war nochmal eine andere Geschichte. Und dann wusste ich, dass es da viel gibt, was ich nicht weiß. Nach dieser Episode. Und was ich auch relativ früh wusste, dass mein Vater schlimme Erlebnisse gehabt haben muss. Und irgendwann war mir dann auch schon klar, er spricht darüber nicht. Und ich, das habe ich ja geschrieben, ich habe mich nicht getraut zu fragen. Das war Mai 1967. Da war Nora 18 Jahre und ihr Vater Helmut Tullatz 57 Jahre alt. Völlig erschüttert. So habe ich ihn wirklich noch nie erlebt. Mein Vater ist, das hast du ja vorhin gesagt, was du da aus dem Bild rausgelesen hast, war immer ein sehr zupackender, fröhlicher, optimistischer Mensch. Und dort war er in völliger Verzweiflung. Und aber auch in eingekatselter Verzweiflung. Das habe ich gemerkt, eigentlich mit sich selbst, in einer schlimmen Zwiesprache. Warum das so ist, das habe ich, wie gesagt, eigentlich jetzt erst wirklich begriffen, als ich alles das gelesen habe, was ich auch über Sachsenhausen aufgeschrieben habe. Und deswegen habe ich es auch in das Buch mit reingenommen, diese Episode. Früher hätte ich es gar nicht erklären können, da hätte ich bloß sagen können, ich nehme mal an, dass es so ist. Nun weiß ich es. Jetzt weiß sie es, jetzt hat sie die Gewissheit. Doch wie hat es damals auf sie gewirkt? Ich war völlig fassungslos. Fassungslos und sprachlos. Weil der Vater, den ich kannte, der immer der zupackende, hoffnungsvolle, mutgebende Vater dieser Familie war, einfach so verzweifelt zu sehen. Also verzweifelt in sich selbst gekehrt. Das war ja mehr so eine trauernde Verzweiflung. Und was mir auch erst hinterher klar geworden ist, deswegen habe ich es auch hier reingenommen, wie stark diese Dinge, und deswegen weiß ich das heute mit hoher Sicherheit, dass das auch nicht nur für meinen Vater klagt, dass diese Dinge nie vergangen sind, in dem dieser lebte. Wie war das denn bei anderen KZ-Überlebenden, die Nora Goldenbogen später kennengelernt hat? Da bin ich mir jetzt sowas von sicher. Sie haben alle nur verkapselt. Weil die mussten ja weiterleben. Und die wollten auch weiterleben. Und ich weiß noch, ich habe ja auch dann andere Überlebende kennengelernt. Und mindestens zwei haben es mir genauso erzählt. Der eine hat mir sogar erzählt, was er erlebt hatte. Weil er wusste um die Geschichte meines Vaters. Und beide haben mir erzählt, dass sie es ganz weit weggeräumt haben. Sonst hätten sie nicht leben können. Waren beide Auschwitz-Überlebende. Also in diesem ganzen Extrem, was dort passiert ist. Aber die andere Seite hat sie wieder eingeholt. Das ist so, weil es nämlich nicht vergangen ist. Gar nicht. Und deswegen denke ich, auch wenn wir heute über Leute reden, was weiß ich, die in diesen Lagern waren von Pinochet in Chile oder in anderen solchen Gefängnissen. Das ist etwas, womit die Leute leben müssen. Und manche können garantiert gar nicht damit leben. Primolevi oder so. Manche haben sich dann später umgebracht. Und da gibt es Gründe dafür. Weil das ist eine Geschichte, die unterschätzt man total. Nora Goldenbogens Buch »Seit ich weiß, daß du lebst« zieht seine Lebendigkeit vor allem aus den vielen Fotos und Dokumenten, die darin enthalten sind. Besonders der Briefwechsel zwischen ihren Eltern in der langen Zeit der Trennung verleiht dem Sachbuch eine starke emotionale Seite. Die Briefe sind schön und stilvoll. Sie ersetzen die Beziehung, die Nähe, die Intimität. Sie sind gegenseitige Stützer und das Fundament ihrer späteren Wiedervereinigung und Familiengründung. Du einziger mein, heute habe ich das Schreiben, welches du mir durch das Rote Kreuz gesandt hast, abgeholt und beeile mich, dir diese Zeilen zu senden, damit du, mein Liebster, nicht mit Schmerzen auf den Briefträger wartest. In diesem Schreiben sprichst du auch über dein Herkommen. Kann dies möglich sein? Schatziger, Süßer, überlege dir gut und alles, und schreibe mir sofort, denn ich kann es wirklich nicht mehr aushalten, vor lauter Sehnsucht und Liebe. Ich habe dir schon zwei Briefe geschickt, hoffentlich wirst du bald in deren Besitze sein. Wie ich dir neulich schrieb, musst du dich gut erkundigen, wie es mit dem Wiedersehen steht. Sollte ich nach dort kommen, so musst du dich um die Einreisegenehmigung in Deutschland und die Ausreisegenehmigung aus Rumänien kümmern. Ich werde schon im Laufe dieser Woche die Passformalitäten vorbereiten. Die Leute erkennen mich kaum, so abgemagert sehe ich aus. Du, mein Schatziger, schreibst, du bist wieder vollkommen gesund. Warst du denn krank, meine Seele? Schatziger, mein Einziger, mache schnell, denn ich will dich nicht mehr allein lassen. Jetzt habe ich die Geduld verloren und möchte schon bei dir sein. Ich werde dir demnächst einige Fotos von mir schicken, aber du musst mir auch deine schicken. Es ist spät abends, ich habe Überstunden gemacht, denn ich arbeite sehr viel, und dies war meine einzige Zerstreuung. Die Sonntage und Feiertage habe ich gehasst. Nun schließe ich, mein süßer Schatziger, und schreibe recht bald, was ich zu tun habe. Es küsst dich deine Nettie. Bukarest, den 11. Juni 1946. So klingt ein Brief von Nettie Tulatz aus dem Jahr 1946. Ihr Vater wählt meist einen anderen Ton. Vater ist sehr gealtert. Gelegentlich werde ich dir alle Adressen der Familie schicken, denn wir wohnen alle an anderen Adressen als denen, die du kennst. Dresden ist als Innenstadt auf einer Fläche von 20 Quadratkilometern vollkommen zerstört. Dort wohnen nur Ratten und Mäuse. Menschen liegen vielleicht noch unter den Trümmern, doch das Leben geht weiter und zwar in einem erstaunlich raschen Pulsschlag. Wenn wir nur etwas mehr zu essen hätten, könnte man heute bereits die Leute für schönere Ziele begeistern. Wenn du die Briefe liest, da habe ich mich jetzt wirklich auf die Briefe bezogen, weil das ist so etwas, wo deutlich wird, sie wollten aber beide eben diese Weichen nicht anders stellen. Egal was da passiert ist. Und bei meiner Mutter, ich wiederhole mich nochmal, die war da sehr... Also ich glaube, die hat überhaupt niemand anderes gehabt. Das war ihr lieber Helmut oder ihr Liebster dort und das war das Ziel. Und so hat sie auch gelebt. Und mein Vater, da denke ich, der war trotz aller anderen Attraktivitäten nicht diejenige, an die sie gedacht hat. Und es gab auch in ihrer späteren Zeit, das weiß ich, meine Mama war immer mal eifersüchtig auf den Vater, weil er so ein Mann war, der eben auch so extrovertiert war. Aber das hat nicht bedeutet, das war wirklich das Spannende an dieser Geschichte, dass nicht diese enge Klammer, die sie hatten, und das hat wahrscheinlich wirklich was mit ihrem gemeinsamen Leben zu tun, viel viel stärker war als alles andere. Das sagt Nora Goldenbogen über die Fernbeziehung, über die Liebesgeschichte ihrer Eltern. Ich kann mir das schwer vorstellen. War da wirklich für beide zu allen Zeiten so eine Klarheit da, trotz aller Krankheiten, Kriege, Krisen und KZ? Ist das nicht vielleicht alles etwas schön gefärbt? Nun will ich nicht sagen, ich mache mir ja manchmal Gedanken und denke, hast du jetzt hier die negativen Seiten ausgeblendet. Muss ich sagen, habe ich nicht. Was ich ganz sicher weiß, aber das kam aus den Dokumenten nicht raus und ich habe ja den Roman geschrieben. Also natürlich hat auch ihre Beziehung bestimmt auch Tiefen gekannt, so wie jede Lebensbeziehung, eine Beziehung zwischen Mann und Frau. Und ich bin mir relativ sicher, dass vor allen Dingen dieses Jahr nach dem Kriegsende für sie beide, wo sie nicht wussten, ob der andere lebt, natürlich garniert auch die Begegnung mit anderen Frauen und anderen Männern, das spielt aber in dem Briefwechsel nur insofern eine Rolle, weil sie einander gefragt haben, ob sie miteinander wieder leben wollen. Insofern hat das schon eine Rolle in ihrem Denken gespielt. Die haben sich wirklich gegenseitig gefragt, wollen wir sozusagen wieder leben miteinander? Oder hast du jemand anderes kennengelernt? Weil das Leben geht ja weiter, das kennen wir ja alle. Und am Ende? Am Ende haben sie sich füreinander entschieden. Bei meiner Mutter war das garantiert noch intensiver als bei meinem Vater. Meine Mama war eine sehr emotionale Frau, merkt man auch in den Briefen, noch ein Stückchen stärker als mein Vater. Und für die kam gar keine andere Sicht in Frage, bin ich mir sicher, so gut kannte ich sie. Für meinen Vater war es aber auch so. Das war interessant und da ich auch, als sie gestorben sind, sehr nahe bei ihnen war, das hat sich wirklich bis zum Schluss durchgezogen. Das war eine so enge Beziehung und deswegen bin ich mir sicher heute, dass ich hier nahe an der Wahrheit war oder bin mit dem Buch. Das kann ja manchmal auch passieren, man hat eine Vorstellung und dann stellt man fest, so war es gar nicht. Da gibt es das und jenes, was dem entgegenspricht, was auch normal ist. Das muss ich auch sagen. Aber ich habe hier an der Stelle und vor allem, wie gesagt, auch dann ihr fast gemeinsamer Tod, der so aufeinanderbezogen war. Mein Vater ist gestorben daran, dass er wusste, dass meine Mutter sterben wird. Die hatte Krebs und das war auch nicht mehr reparabel, die Zeit war eingetaktet und dann hat mein Vater drei Herzinfarkte ineinander gekriegt und ist am Ende eher gestorben als sie. Das ist so eine Geschichte, das habe ich nur sehr miterlebt, weil da war ich ja sozusagen bis zum Schluss bei ihnen. Das habe ich natürlich auch nicht vergessen und das ist für mich so ein Maß an Sicherheit gewesen. Die haben gesagt, nee, du bist ja nicht ganz vorbei an dieser Geschichte, weil du ja gefragt hast, das kann ja auch eine ganz andere, aber du hast völlig recht. Deswegen habe ich mich auch nicht gescheut, ein Stück von dieser Liebesgeschichte zu erzählen, die ja doch ein bisschen intim ist. Ich wollte aber zeigen, weil es gibt ja genug in dieser Welt, wo darüber diskutiert wird, einen Lebensabschnitt im Stadt und immer mal einen anderen Partner oder eine andere Partnerin, dass für sie beide das nicht in Frage gekommen wäre. Mein Gespräch mit Nora Goldenbogen habe ich bei ihr zu Hause in der Dresdner Altstadt im Dezember 2022 aufgenommen. Ursprünglich wollte ich lediglich das Buch rezensieren, doch schon während unseres Treffens habe ich gemerkt, dass Nora Goldenbogens Wissen und der Erfahrungsschatz ihrer Erinnerungen und Erinnerungsstücke einen größeren Impact haben. Mit ihrem Buch, seit ich weiß, dass du lebst, Liebe und Widerstand in finsteren Zeiten, hat sie mir Mut gemacht, Mut der eigenen Familiengeschichte nachzugehen und näher hinzusehen. Mut Antifaschismus als Grundwert zu leben und vorzuleben. Ich bin Jens Steiner, danke an dieser Stelle an Johannes und Cora von Coloradio, die mich bei der Produktion unterstützt haben. Untertitel der Amara.org-Community

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