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Uwe Timm Am Beispiel meines Bruders 7 bis S. 66

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Transcription

The transcription is about the father's desires and experiences during and after World War II. He found valuable metals in destroyed houses and participated in a barter trade for goods. He had a diverse background, including studying zoology and being part of the Konsul organization. He also attempted to start a toy factory but went bankrupt. Despite his shortcomings, the mother stood by him and they had a stable marriage. In den zerstörten Häusern fanden sich Kupfer und Bleirohre, Metallsorten, die später beim Altwarenhändler einen guten Preis erzielen sollten. Auch Töpfe, Herde, Heizöfen, Drehbänke, Werkzeug zuweilen bizarr verschmolzen. Und an den Straßen, den Rückzugstraßen der deutschen Armeen, lagen all die gestrandeten Gefährte, die zerschossenen Wehrmachtslaster, Gulaschkanonen und Geschützprotzen, die liegen gebliebenen Personenwagen, aus denen die intakten Teile ausgebaut worden waren. Diese wurden eingespeist in den Tauschhandel, wobei sie sich ihr Äquivalent immer wieder neu suchen mussten, ein Tauschhandel, der sich tatsächlich auf Nachfrage und Angebot richtete, allenfalls an der Ungefährwährung der amerikanischen Zigaretten orientiert war. Was wollte der Vater? Es sind diese Wünsche, wie auch die Abneigung, gerade die nicht ausgesprochenen, die weiterreichen und den Linien eines Magnetfeldes vergleichbar, unserem Handeln die Richtung geben. Was wollte der Vater? Ebenfalls nicht Kirschner und noch weniger Präparator sein. Was war sein Wunsch? Nach der Zeit im Freikorps hatte er sich in verschiedenen Städten aufgehalten. Er studierte Zoologie, obwohl er kein Ambitur hatte. Wie, frage ich mich heute, hat er das gemacht? Oder war das einfach erzählt, erfundene Biografie? Er hatte einige Zeit in Stuttgart gelebt, wo er gehungert haben muss, sich wochenlang von Karotten ernährte, bis er wegen Unterernährung zusammenbrach. Seine Schwester Grete, die ihn in Stuttgart besucht hatte, erzählte davon. Er stand der Organisation Konsul nah oder war sogar deren Mitglied. Das behauptete seine Schwester Grete. Novemberverräter, Deutschdoos, Systemzeit. Organisation Konsul war die fehme Gruppe der Freikorps. Sie war verantwortlich für die Morde an den sogenannten Vaterlandsverrätern Rathenau und Erzberger. Einmal kam ein ehemaliger Kamerad aus dem Ersten Weltkrieg, mit dem er, gegen seine sonstige Gewohnheit, allein im Zimmer sprach. Ein hoch aufgeschossener Mann, blass, schmal das Gesicht, mit einer schrägen, blau-roten Narbe über Nase und Stirn. Die geteilte Augenbraue war verwirbelt zusammengewachsen. Der Rittmeister, nannte ihn der Vater, ohne den Namen zu nennen. Auch die Mutter wußte nichts. 1921 hatte der Vater gemeinsam mit einem emigrierten, zaristischen Offizier versucht, eine Spielwarenfabrik aufzubauen. Sie ließen von Arbeitslosen und Kriegsinvaliden Holzfäden anfertigen. Er dachte sich Werbesprüche aus, von denen mir nur einer jetzt wieder eingefallen ist. Für die lieben Kleinen, damit sie lachen und nicht weinen. In dieser Zeit lernte er meine Mutter kennen, Tochter eines Hutmachers mit einer florierenden Hutfabrikation und einem Ladengeschäft, Besitzer einer kleinen Villa in der Thornquiststraße in Hamburg-Eimsbüttel. Liebe, nicht auf den ersten Blick, wie sie sagte, aber doch recht bald, nachdem sie sich ein paar Mal getroffen hatten. Zwischen den Treppen lagen jeweils ein oder zwei Wochen. Der Mann gefiel ihr, dieser große, schlanke Mann in seiner Eteska, einer Uniformjacke, die er ohne Abzeichen trug. Auf einigen Fotos ist er darin zu sehen. Als Hochstapler hätte er gut einen Preußenprinzen spielen können. Ein Foto zeigt ihn auf einem Faschingsfest als Husar verkleidet. Fast immer hält er eine Zigarette in der Hand, manchmal im Mund, wie man es heute nur noch von alten Filmpakaten kennt. Ein wenig im Mundwinkel, ein lässiges, kleines Lächeln, die Hände in den Seitentaschen der Liteska. Er hatte sonst kein Jackett, kein Mantel, nur diese Uniformjacke, unter der er im Winter einen gestopften, grauen Pullover trug. Er war ein Habe-nichts mit guten Manieren. Er hielt um die Hand der Tochter bei dem Hutmacher an, der sich einen vermögenden Schwiegersohn wünschte, aber dann doch seine Einwilligung gab. Kurz darauf machte der junge Mann mit der Spielzeugfabrikation, die man sich nicht groß vorstellen darf, bankrott. Der zaristische Offizier floh vor dem Gläubiger nach Paris. Der junge Mann wurde vom Schwiegervater entschuldet. Die Mutter sagte, das war der Mann, der Einzige. Nicht, dass sie diese Diskrepanz nicht sah, zwischen dem, was er darstellte, und dem, was er wirklich war. Aber er hatte, trat er auf, stets einen Kredit, der zwar oft nicht ganz gedeckt war, und den er wohl auch in den meisten Fällen nicht zur Deckung bringen konnte. Hätte er eine abgeschlossene Ausbildung gehabt, hätte er studiert, wäre er Rechtsanwalt geworden, intelligent und elefant, wie er war, oder Architekt, ein Beruf, den er sicherlich gut hätte ausüben können, zeichnerisch begabt, mit einer genauen Raumvorstellung, dann wäre ihm eine solide bürgerliche Existenz sicher gewesen. So aber war er immer nur von der Erscheinung her mehr, während er einer Beschäftigung nachgehen musste, die er insgeheim verachtete. Die Mutter sah diese Schwäche und versuchte, sie auszugleichen, ohne ihn je in Gesellschaft bloßzustellen, nicht einmal durch ein Verziehen des Mundes oder der Augenbrauen. Nie hat sie abfällig über ihn geredet, auch wenn ich mich über ihn beklagte. Und es gab eine Zeit, da konnte ich nicht ohne Erregung mit ihm reden, kurz vor seinem Tod. Sie hat zu ihm gehalten, ohne Zögern. Mein Mann, sagte sie oft einfach nur, mein Mann. Mit mir gegenüber, sagte sie, Vater. Verheiratet zu sein war etwas Endgültiges, etwas Verlässliches, eine einmal eingegangene Bindung, die unauflöslich war. Sie haben sich vor mir nie gestritten. Anlass für Streit müsste es gegeben haben, denn sie, die Mutter, die einen genauen Sinn für das Machbare hatte, das Reelle, die so wenig auf Äußerlichkeiten Wert legte, sich davon nicht blenden ließ, selbst bescheiden war, wird nicht übersehen haben, dass er über seine Verhältnisse lebte. Es hat Diskussionen gegeben. Sie hat ihm ihre Meinung gesagt, ruhig und bestimmt. Aber sie haben sich vor mir nicht gestritten. Woran ich mich erinnere, ist ein Mahnendes. Das kannst du doch nicht machen, Hans. Das geht einfach nicht. Dass sich die Eltern scheiden lassen könnten, wofür es in meiner Schulklasse drei, vier Beispiele gab, oder dass sie auch nur getrennt voneinander leben würden, war für mich gar nicht denkbar. Sie gehörten zusammen, unverrückbar. Und auch nach seinem Tod, sagte sie, damals 56 Jahre alt war, das war der Mann, der Einzige, den ich wollte, den ich hatte. Auch wenn ich mich genau prüfe, kann ich mich an keine lautstarke, heftige Auseinandersetzung erinnern, an kein Schmollen, vorwurfsvolles Schweigen, keine Gehässigkeiten, nicht von ihm, nicht von ihr. Dafür war die Rollenaufteilung zu eindeutig. Er bestimmte die ökonomischen Belange, die Marschrichtung. Sie regelte den Haushalt, war im Geschäft, beriet Kundinnen, half hin und wieder in der Werkstatt, führte Ordnemente und kümmerte sich um das Kind, also um mich, den Nachgeborenen, den Nachkömmling.

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