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Uwe Timm Am Beispiel meines Bruders 10 bis S 83

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Transcription

The transcription discusses the experiences of Karl Heinz, a young boy who idolizes his brother and is fascinated by bravery. The brother writes a letter to their mother, mentioning Karl Heinz's desire to shoot Russians and run away with him. Karl Heinz later joins the SS voluntarily, motivated by the ideology of being part of an elite group. The transcription also explores the concept of bloodline and the role of education in preventing atrocities. The parents contemplate what would have happened if Karl Heinz had not joined the SS. The transcription reflects on the horrors of war and the complex motivations behind people's actions. Karl Heinz, der an dem Vater hing, als er ein richtiger Junge war, auf diesen Jungen war er stolz. Wahrscheinlich war der Bruder ein so ängstliches Kind wie ich. So, wie ich mich auch heute noch bei dem Gedanken ertappe, los, spring jetzt! Und unten, weit unten, ist das Wasser. Und niemand hat mir je erklärt, wie man abspringt, mit dem Kopf voran, aber nach vorn, nicht nach unten, sich abstoßen vom Brett, nicht fallen lassen. Ich bin einmal an einem regnerischen Tag, als kaum jemand im Freibad war, hingegangen, ohne etwas zu sagen, bin zum Fünf-Meter-Brett hochgestiegen und bin gesprungen. Das Zehn-Meter-Brett wartet noch auf mich. Ein Gefühl wie ein Befehl, mutig sein! Mutig sollte er sein, aber nicht träufeln. Er beteuert, im Lazarett liegend, die Beine amputiert, in dieser durch Morphium verzogenen Sprache, er sei nicht waghalsig gewesen. Also selbst da, verstümmelt und mit dem Wissen eines für immer entstellten Lebens, einer Jugend, die keiner mehr sein wird, selbst da ist er noch der tapfere, brave Junge. In einem Brief an die Mutter hat der Bruder einen zweiten beigelegt, der an mich, den damals Dreijährigen, gerichtet ist. 22.07.43 Lieber Uwe, wie die Goldmutsch mir schrieb, willst du alle Russen totschießen und dann mit mir türmen. Also Bub, das geht nicht, wenn das alle machen würden. Aber ich hoffe, dass ich bald nach Hause komme. Dann spiele ich mit Uwe. Wir warten jetzt aufs Verladen. Wir kommen an eine andere Stelle der Ostfront. Was machst du denn den ganzen Tag? Brombeerenfutter, was? Lass die dir nur gut schmecken. Wie kommt ein dreijähriges Kind dazu, alle Russen totschießen zu wollen? Es war die selbstverständliche Rede. Es könnte aber auch eine höchst indirekte, mütterliche Aufforderung gewesen sein, zu desertieren, die wegen der Briefzensur einem Kind in den Mund gelegt worden war. Denn das ergibt keinen Sinn. Wenn man alle Russen totschießt, muss man nicht mehr türmen. Die Lüneburger Heide. Der Totengrund. Schleswig-Holstein. Bad Segeberg. Sonntagnachmittag. Das Spazieren gehen um den See. Der Vater mit Hut und dem leichten Sommermantel. In der Hand die Lederhandschuhe. Die Mutter im Kostüm. Einen hellen Staubmantel, Garnhandschuhe. Das Kind in hellen Hosen, weißen Kniestunden. So gingen wir am Seeufer spazieren. Die Erinnerung daran ist Lähmung. Eine Lähmung beim Atmen. Eine Lähmung beim Denken. Eine Lähmung der Erinnerung. Und noch etwas. Oft wurde auf diesen Sonntagsausflügen von ihm geredet. Oder ist dieses oft eine starke Übertreibung dessen, was wirklich gar, nämlich ein Hin und Wieder, und hatte es sich nur mir so eingeprägt, weil es immer auch ein Reden zumal, wenn es sich nicht an mich richtete, war, das mich in Frage stellte. Es war auch ein Infragestellen des Lebens beider, der Eltern. Was wäre wenn? Eine ganz überflüssige Frage. Die aber immer auch auf den Fragenden zielt. Inwieweit ihm die Dinge als veränderbar, dem Zugriff rationalen Handelns ausgesetzt erschienen. Wobei die Mutter dem Vater nie einen Vorwurf machte. Es hieß, er habe sich tatsächlich freiwillig gemeldet. Der Vater hätte nicht zugeredet. Aber dessen bedurfte es auch nicht. Es war nur die wortlose Ausführung von dem, was der Vater im Einklang mit der Gesellschaft wünschte. Ich hingegen hatte eigene Worte finden können. Widerworte. Fragen und Nachfragen. Und Worte, mit denen sich traurig sein und Angst ausdrücken ließen. Ihm erzählen. Der Junge träumt und tünt. Tünen hieß Lügen, Flunkern. Das plattdeutsche Wort kommt und trifft es recht gut, vom Flechten. Tatsächlich war es für den Jungen ein Zusammenflechten von Gehörtem und Gesehenem, um sich selbst und den Dingen eine ganz eigene Bedeutung zu geben. Der ängstliche Junge, der tapfere Junge. Brief an den Vater 20.07.1943 Seit 5. Juli stand unser Zug Tiger nunmehr im Kampf bis heute. Wo der Gegenstoß beendet ist, den Erfolg hast du sicher in der Zeitung gelesen. Es waren schwere Kämpfe. An manchen Stellen liegen russische, amerikanische und englische Panzer nur fünf bis hundert Meter weit auseinander. Manchmal drei aneinander. Wir sind mit unserem Schützenpanzer mit T34 um die Wette gekurvt, bis der T34 einen von Panzer 3,4 oder Tiger verpasst bekommen hat. Ich werde dir später alles schildern. Schreibe nichts Mutti. Es grüßt dich, dein Kamerad Karl Heinz. Der tapfere Junge hatte sich freiwillig zu einer Eliteeinheit gemeldet. Eine so ganz andere Elite als die, mit der er, der Vater, im Freikorps gekämpft hatte. Das waren die feudalen aristokratischen Reste gewesen, in deren Kreis man eintreten konnte, ohne jemals wirklich aufgenommen zu werden, also nur geduldet wurde. Semper Talis, immer vorzüglich, war das Motto der Garde Fusiliere, das der Vater gern zitierte. Aber das war dieses, sein Leben, eben nicht vorzüglich. Das Wort Ehre, so wie er es betonte, das geht gegen die Ehre. In die Waffen SS konnte er eintreten, dessen Ahnenpaß belegte, dass es bis zu den Urgroßeltern keinen jüdischen Vorfahren gab. Rein arischer Abstammung, der Stammbohrung. Nobilität für das ganze Volk. Im Jahr 1928 ein Geflügelzuchtbetrieb suchte Vorbilder für die SS im Mittelalter. Ordensbogen, Kingspiele, Ostsiedlung. Umvolkung. Ein lächerliches, albernes Wort. Umvolkung. Das aber in der Wirklichkeit mörderisch war. Die Erwählten sollten rassisch definiert werden. Das Volk, nicht die Schicht, die soziale, sondern das Blut, wie beim Adel, nicht das blaue, sondern das arische Blut, das deutsche. Der Herrenmensch, der zum Herrscher berufene. Das schwarze Chor. Die Elite. Und es hat durchaus System, dass die Leiter der Einsatzgruppen in der Sowjetunion ausdrücklich von Himmler bevorzugt. Akademiker waren. Acht waren Juristen. Einer Universitätsprofessor. Und SS-Standartenführer Blobel, Führer des Sonderkommandos 4a, verantwortlich für den Tod von 60.000 Menschen, als selbstständiger Architekt. Zur Überraschung der verhörenden amerikanischen Offiziere waren diese Männer keine brutalen Primitiven, sondern literarisch, philosophisch und musikalisch gebildete Männer, die, man wünschte, es wäre nicht möglich, Mozart hörten, Hölder gelasen. Sie hatten durchaus ein Unrechtsbewusstsein und darum auch alles unternommen, um das, was sie getan hatten, geheim zu halten. Die Toten in der Schlucht von Babija wurden, als die Rote Armee im Vormarsch auf Kiew war, von Häftlingen unter Aufsicht der SS enterdet, verbrannt. Danach wurden die Häftlinge erschossen. Das zur Verbrennung benutzte Dieselöl wurde abgerechnet. Die Bürokraten des Todes. Otto Ohlendorf, studierte Ökonom, Chef der Einsatzgruppe D, Kenner von Statistiken, rechtfertigte die Tötung von 90.000 Männern, Frauen und Kindern. Mit dem Vergleich, die Israeliten der Bibel hätten ihre Gegner ebenfalls ausgerottet. Der Herrenmensch. Es war der Größenwahn der Spießer und auch dem letzten der Sozialdeplazierten war zu vermitteln, es sei besser, mit einem Karabiner zwölf Untermenschen bei der Arbeit zu bewachen, als selbst zu arbeiten. Das war der Kitt dieser Herrenideologie. Der Mythos Blut und deutsch zu sein reichten aus. Egal, ob man faul oder fleißig, dumm oder intelligent war, man gehörte zum Herrenvolk. Ähnlich dem Adel, mit dem der Vater in Baltikum konfrontiert worden war und der auf die Reinheit des Stammbaumes achtete, war es hier die Volksgemeinschaft. Und darin, in dieser durch nichts als dem Stammbaum verschworenen Gemeinschaft, die sich elitär über alle anderen Völker erhaben fühlte, war die SS, die Schutzstaffel, das Vorbild. Ihren Mitgliedern wurden die Blutgruppe in den linken Oberarm eintätowiert. Einerseits einer eher nüchternen Überlegung entsprang, nämlich bei Verwundung sogleich die Blutgruppe zu erfahren, war in seiner tieferen Bedeutung Ausdruck einer Blutsbrüderschaft. Einer Ideologie, die ständig und immer wieder mit dem Blut argumentierte, dem Stammbaum, der Zucht. Sie war die reziproke Handlung zu der, die den Häftlingen in dem KZ eine Nummer auf den Unterarm tätowierte, zur Kenntnismachung der aus der menschlichen Gemeinschaft ausgestoßenen. Opfer und Täter waren gleichermaßen durch Nummern gekennzeichnet. Und nichts, das ist die tiefe, verzweifelte Erkenntnis, nicht Bildung, Kultur, nicht das sogenannte Geistige, hat die Täter vor den Untaten bewahrt. Jean Améry hat es in An den Grenzen des Geistes beschrieben, galt in seiner Verklärung auch für die Opfer in den Lagern. Kulturbildung gab keine Stärkung, kein Trost, konnte keinen Widerstand mobilisieren, nichts. Der Täter bekam, wie beispielsweise Heinrich, spielt der Violine, einen weichen, empfindsamen Mund. Für das Opfer galt, was Jean Améry schrieb, wie die Gedichtstrofe von den sprachlos stehenden Mauern und denen windeklirrenden Fahnen verloren auch die philosophischen Aussagen ihrer Transzendenz und wurden vor uns teils zu sachlichen Feststellungen, teils zu ödem Geklapper. Wo sie etwas meinten, erschienen sie trivial. Und wo sie nicht trivial waren, dort meinten sie nichts mehr. Dies zu erkennen bedurften wir keiner semantischen Analyse und keiner logischen Syntax. Ein Blick auf die Wachtürme, das Schnuppern nach dem Fettbrandgeruch der Krematorien genügte. Kein Versuch zur Erklärung, wie auch kein Schreiben, kein Satz hilft im Sinne von Herleitung, Einordnung, Verstehen, sondern nur dieses. Notwehr gegen das Vorgefundene. Das Foto, das Lee Miller in Dachau nach der Befragung des Lagers durch die Amerikaner aufgenommen hat, zeigt einen von Häftlingen ertränkten SS-Mann in einem Bach. Leicht verschwommen durch die Strömung des klaren Wassers, erkennt man das Gesicht und die gesprenkelte Tarnuniform wie aus einer bedrohlichen Tiefe. The Evil, hatte Lee Miller ihr Foto unterschrieben. Was, wenn der Bruder zur KZ-Wachmannschaft versetzt worden wäre? Ausgesprochen haben die Eltern diese Frage nie und gedacht, wenigstens das denke ich, sie müssen es gedacht haben. Und wie groß war ihr Schreck bei diesem Gedanken. Ausgesprochen und besprochen haben sie, was wäre gewesen, wenn er sich nicht zur SS gemeldet hätte. Das war aber nicht die radikale Absage an den Krieg, die hätte Jahre früher erfolgen müssen. Sondern nur eine Variante in der militärischen Wertung, in der Wahl der militärischen Einheit, als er einfach zur Wehrmacht gegangen wäre. Die Wehrmachtsverbände hatten weit weniger Verluste als die Waffen-SS. Und zudem, die Wehrmacht hatte nichts mit diesen schrecklichen Dingen zu tun gehabt. In den 50er, in den frühen 60er Jahren, galt die Wehrmacht noch ganz selbstverständlich als anständig. Die Wehrmacht, das waren Soldaten, die nur ihre Pflicht getan hatten. Die Waffen-SS hatte mehr als nur ihre Pflicht getan. Unsere Ära ist heuer, stand auf ihren Koppelschlössern. Sie wäre doch zum Afrika-Korps gegangen. Das übersah natürlich, was die Eltern wussten, dass man auch in Afrika beide Beine abgeschossen bekommen konnte. Vielleicht, so war die Überlegung, hätte das Schicksal in Afrika anders entschieden. Tatsächlich war ein Wunsch des Bruders, im Afrika-Korps zu kämpfen. Rommel, der Wüstenfuchs, Afrika. Eine romantische Vorstellung. In seinem Tagebuch findet sich die Zeichnung eines Löwen, der hinter einem Baum hervorspringt. Palmenblätter, eine Schlange am Boden. Der Löwe ist recht gut gezeichnet. Eine andere, etwas naive Skizze, zeigt die Schaufenster eines Geschäfts. Darüber steht, Pelze, Tiere, Fälle. Damen- und Herrenkonfektion. Tierkopfformen. Tierpräparation. Tierbildhauerei. Dann, der Name des Vaters. Heinz II.

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