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128 Das ist also mein Leben

128 Das ist also mein Leben

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Charlie's family arrives at his grandmother's house for a visit. They are greeted by their extended family, including Uncle Phil and Aunt Rebecca. Charlie reflects on his grandmother's past, including her abusive first husband and how Uncle Phil protected her. Charlie also thinks about his cousin who may end up like Aunt Rebecca and wonders if his father's absence from their lives was the right decision. He mentions a tradition of visiting Aunt Helen's grave on the way back home. Dann wandte sich Dad Mom zu. Und Mom wandte sich uns zu. Euer Vater und ich wünschten keinen weiteren Streit. Besonders nicht, wenn wir angekommen sind. Habt ihr das verstanden? Erstaunlich, wie Mom und Dad manchmal ein richtiges Team sein können. Mein Bruder und meine Schwester hinwegten jedenfalls beide und senkten den Blick. Und dann wandte sich Dad mir zu. Charlie? Ja Sir? Es ist wichtig, in solchen Momenten Sir zu sagen. Und wenn sie einen mit deinem vollen Namen ansprechen, dann sollte man wirklich auf der Hut sein. Ich weiß, wovon ich rede. Charlie, ich will, dass du den rechtsextremistischen Weg zu meiner Mutter fährst. Alle im Auto wussten, dass das vermutlich die schlechteste Idee war, die mein Vater je in seinem Leben gehabt hatte. Aber niemand protestierte. Dad stieg aus, ging nach hinten und setzte sich zwischen meinem Bruder und meiner Schwester auf die Rückbank. Ich kletterte nach vorne, setzte mich auf den Fahrersitz, legte den Kot an und würgte den Wagen zweimal ab. Dann fuhr ich den Rest der Strecke. Und ich habe nicht mehr so geschwitzt seit jener Zeit, als ich Sport getrieben habe. Und dabei war es draußen wirklich kalt. Dads Familie ist ein bisschen so wie Mams Familie. Mein Bruder meinte einmal, irgendwie sind es dieselben Cousins, nur mit anderen Namen. Aber einen großen Unterschied gibt es. Meine Großmutter. Ich liebe meine Großmutter. Jeder liebt meine Großmutter. Sie wartete in der Einfahrt auf uns, so wie immer. Sie wusste immer, wenn jemand kam. Kann Charlie denn schon fahren? Er ist gestern 16 geworden. Oh, meine Großmutter ist schon ziemlich alt. Und sie vergisst eine Menge. Aber dafür macht sie die leckersten Kekse. Als ich noch sehr klein war, war da Mams Mutter, bei der es immer Bonbons gab und Dads Mutter, bei der es immer Kekse gab. Und Mam hat mir einmal erzählt, dass ich die beiden damals Bonbon-Oma und Keks-Oma genannt habe. Ich war Pizza-Rinde, auch Pizza-Knochen genannt. Keine Ahnung, warum mir das gerade einfällt. So wie meine allererste Erinnerung, als ich mir wahrscheinlich auch das erste Mal richtig bewusst wurde, dass ich am Leben bin. Mam und Tante Helen nahmen mich mit in den Zoo. Ich glaube, ich war drei damals, aber ich könnte es nicht genau sagen. Einmal sahen wir diesen beiden Kühen zu. Eine Mutterkuh und der Kalb. Sie hatten nicht so viel Platz in ihrem Gehege. Und das Kalb stand genau unter der Mutter. Und plötzlich machte die Mutter ihrem Kalb einen großen Haufen auf den Kopf. Und ich fand, das war das Komischste, dass ich auf der ganzen Welt die gesehen hatte und lachte drei Stunden lang darüber. Erst lachten Mam und Tante Helen mit, weil sie sich freuten, dass ich lachte. Angeblich habe ich als kleines Kind so gut wie nie geredet. Und so haben sie sich immer gefreut, wenn ich einmal einen normalen Eindruck machte. Doch als es dann drei Stunden lang so ging, versuchten sie mich zum Aufhören zu bringen. Und darüber musste ich nur noch mehr lachen. Ich glaube nicht, dass es wirklich drei Stunden waren. Es kam mir jedenfalls sehr lange vor. Und ich denke immer mal wieder daran. Es scheint mir das zu sein, was man einen verheißungsvollen Staat nennt. Wie auch immer, nachdem uns alle die Hände geschüttelt hatten und uns umarmt hatten, gingen wir ins Haus. Und da waserte Dads restliche Familie auf uns. Großonkel Phil mit seinem künstlichen Gebiss. Und Tante Rebecca, Dads Schwester. Mam hat uns gesagt, dass sie sich Tante Rebecca in die Quadrat wieder scheiden lassen und wir nicht darüber reden sollten. Allerdings interessierte ich mich ohnehin nur für die Kekse. Doch meine Großmutter hatte dieses Jahr keine gemacht, wegen ihrer schlimmen Hüfte. Statt Kekse zu essen, setzten wir uns alle hin und sahen fern. Meine Cousins unterhielten sich mit meinem Bruder bei Football. An Großonkel Phil trank und dann saßen wir zu Abend. Und ich musste mit den Kleinen am Tisch sitzen, weil es in Dads Familie viel mehr Cousins gibt. Kleine Kinder unterhalten sich über die seltsamsten Dinge. Wirklich. Nach dem Abendessen sahen wir uns Ist das Leben nicht schön? an und ich wurde immer trauriger. Als ich später die Treppe zu Dads früheren Kinderzimmer hinaufging und mir dabei die alten Familiensfotos ansah, die an den Wänden hingen, musste ich daran denken, dass diese Fotos irgendwann einmal keine Erinnerung gewesen waren. Dass jemand dieses Foto wirklich gemacht hatte und die Leute darauf hatten gerade wirklich zu Mittag gegessen. Der erste Mann meiner Großmutter starb im Korea-Krieg. Mein Vater und Hanna Rebecca waren dann noch ganz klein. Meine Großmutter zog daraufhin mit den beiden Kindern zu ihrem Bruder, Großonkel Phil. Und nach einigen Jahren wurde meine Großmutter sehr, sehr traurig, weil sie ja allein zwei Kinder versorgen musste und müde von vielen Kellnern war. Eines Tages also, in dem Diner, in dem sie damals arbeitete, fragte sie dieser Lastwagenfahrer, ob sie sich mit ihm treffen wolle und sie sagte ja. Meine Großmutter war sehr hübsch. Auf diese Art, wie man auf alten Fotos hübsch war. Jedenfalls ging sie eine Weile miteinander aus und dann heiraten sie. Aber der Lastwagenfahrer stellte sich als furchtbarer Mensch heraus. Er schlug mein Vater die ganze Zeit und er schlug auch Hanna Rebecca die ganze Zeit. Meine Großmutter schlug er wirklich schlimm, die ganze Zeit. Und sie konnte auch mal nichts dagegen tun, denn es ging sieben Jahre lang so. Bis Großonkel Phil eines Tages Hanna Rebeccas blaue Flecken entdeckte und meine Mutter dazu brachte, ihm alles zu erzählen. Dann trommelte er einige Freunde aus der Fabrik zusammen und sie stümmerten den Mann meiner Großmutter in einer Bar auf und schlugen ihn wirklich übel zusammen. Großonkel Phil erzählt ihr die Geschichte sehr gerne, wenn meine Großmutter gerade nicht in der Nähe ist. Hier und da verändert sie sich immer mal wieder. Aber letztlich läuft sie jedes Mal auf das Gleiche hinaus. Der Lastwagenfahrer starb vier Tage später im Krankenhaus. Keine Ahnung, warum Großonkel Phil für das, was er erzählt, was er getan hatte, nicht ins Gefängnis musste. Ich habe meinen Vater einmal danach gefragt und er sagte, die Leute aus dem Viertel, in dem sie lebten, seien sich damals einig gewesen, dass bestimmte Dinge die Polizei nichts angehen. Er sagte, wenn jemand seine Schwester oder seine Mutter anrührt, zahlt er ihm den Preis dafür und niemand regt sich groß darüber auf. Es ist einfach nur schade, dass es sieben Jahre lang andauerte, denn Tante Rebecca machte später dasselbe mit ihren Ehemännern durch. Bei ihr lief es aber anders, denn das Viertel hatte sich verändert. Großonkel Phil war schon zu alt und mein Vater war weggezogen. Tante Rebecca musste stattdessen die Gerichte einschalten. Ich fragte mich, was einmal aus Tante Rebeccas Kindern werden wird. Sie hat ein Mädchen und zwei Jungs. Darüber nachzudenken macht mich traurig, denn ich glaube, dass das Mädchen wie Tante Rebecca jüngen wird und der eine Junge wie sein Vater. Der andere Junge könnte so wie mein Vater werden, weil er ziemlich sportlich ist und nicht denselben Vater wie sein Bruder und seine Schwester hat. Der spricht oft mit ihm und bringt ihm bei, wie man einen Baseball wirft. Früher, als ich klein war, war ich ziemlich eibersüchtig, deshalb jetzt aber nicht mehr. Weil mein Bruder sagt, dass mein Cousin der Einzige in seiner Familie ist, der eine Chance hat und dass er meinen Vater braucht. Ich glaube, ich verstehe das. Der frühere Kinderzimmer sieht noch ziemlich genau aus wie damals, als er ausgezogen ist. Es ist nur etwas verblasst. Auf dem Schreibtisch steht ein Globus, der offenbar sehr oft gedreht worden war. An den Wänden hängen Poster von ehemaligen Baseballstars und alte Zeitungsausschnitte, wie mein Vater damals in den Jahrzehnten dieses wichtige Spiel gewonnen hat. Ich weiß nicht genau wieso, aber plötzlich verstand ich, dass mein Vater aus diesem Haus hätte ausziehen müssen. Als ihm klar wurde, dass meine Großmutter keinen neuen Mann mehr finden würde, weil sie mit den Männern fertig war und weil sie kein Vertrauen mehr hatte und weil sie gar nicht mehr wusste, wie das ging. Und als er sah, wie seine Schwester jüngere Versionen ihres toten Stiefvaters mit nach Hause brachte, da musste er einfach weg. Ich legte mich auf sein altes Bett und betrachtete den Baum vor dem Fenster, der viel kleiner gewesen war, als mein Vater ihn betrachtet hatte. Und ich konnte fühlen, was er in jeder Nacht gefühlt hatte, als ihm klar wurde, dass er nie sein eigenes Leben würde führen können, wenn er jetzt nicht den, sondern immer nur das seiner Familie. Zumindest hatte er das mal einmal gesagt. Vielleicht sieht sich der jetzt von mir deshalb jedes Mal den gleichen Film an. Es würde irgendwie Sinn ergeben. Übrigens weint mein Vater am Ende dieses Films nie. Ich fragte mich, ob meine Großmutter oder Tante Rebecca meinem Vater je vergeben würde, dass er sie dagelassen hat. Nur Großonkel Phil hat es verstanden. Es ist schon sehr seltsam, wie sich mein Vater im Gegenwart seiner Mutter und seiner Schwester verändert. Er macht die ganze Zeit über ein schuldbewusstes Gesicht und er geht mit seiner Schwester immer lang spazieren. Einmal habe ich durch das Fenster gesehen, wie der dick gelb gab. Und ich fragte mich, was Tante Rebecca im Auto auf dem Weg zurück nach Hause erzählt. Was denken Ihre Kinder? Reden sie über uns? Fragen sie sich, wer aus unserer Familie wohl eine Chance hat? Ich wette, dass sie das tun. Alles Liebe, Charlie 26. Dezember 1991 Lieber Freund, nach zwei Stunden Fahrt sitze ich wieder zu Hause in meinem eigenen Zimmer. Diesmal haben sich meine Schwester und mein Bruder vertragen, also musste ich nicht ans Steuer. In der Regel fahren wir auf dem Rückweg immer am Friedhof vorbei und besuchen Tante Hellens Grab. Das ist so eine Art Tradition. Mein Bruder und mein Vater wollen es zwar wirklich nie, aber Mama und mir zuliebe legen sie keinen Protest ein. Meine Schwester ist es eigentlich egal, sie ist jedoch bei solchen Dingen äußerst feinfühlig. Immer wenn wir an Tante Hellens Grab gehen, reden meine Mutter und ich über eine Sache, die wunderbar an ihr gewesen ist. Meistens sage ich, wie wunderbar es war, dass ich immer länger aufbleiben und ihr Nightlife anschauen ließ. Und meine Mutter lächelte, denn sie hätte als Kind auch gerne länger aufbleiben und Fernsehen wollen. Wir legen Blumen und manchmal auch eine Karte auf Tante Hellens Grab. Ich glaube, wir wollen einfach, dass sie weiß, wie sehr wir sie vermissen. Und was für ein besonderer Mensch sie war. Meine Mutter meint, das hätte man Tante Hellen viel zu selten gesagt, als sie noch am Leben war. Und irgendwie fühlte sich meine Mutter schuldig deswegen. So ähnlich wie mein Vater mit seiner Familie. So schuldig, dass Mama Tante Hellen damals statt Geld gleich ein ganzes Zuhause gelegen hat. Ich denke, du solltest wissen, warum sich meine Mutter schuldig fühlt. Ich weiß nicht so recht, ob ich es dir wirklich sagen sollte, aber mit irgendjemandem muss ich darüber reden. Niemand in meiner Familie will darüber reden. Nie. Ich meine diese schlimme Sache, die Tante Hellen passiert ist und sie mir nicht sagen wollte, als sie noch klein war. Jedes Jahr zu Weihnachten kann ich im Traum etwas anderes denken. Es ist das, was mich tief im Inneren so unendlich traurig macht. Ich sage nicht wer, ich sage nicht wann. Ich sage nur, dass Tante Hellen missbraucht wurde. Ich hasse dieses Wort. Es war jemand, der ihr sehr nah stammt, aber nicht ihr Vater. Sie hat es ihrem Vater erzählt, doch er hat ihr nicht geglaubt, weil er die betreffende Person gut kannte. Ein Freund der Familie. Das macht es nur noch schlimmer. Meine Großmutter sagte auch nie etwas und der Mann kam einfach immer wieder zu Besuch. Tante Hellen hat getrunken. Tante Hellen hat Drogen genommen. Tante Hellen hat jede Menge Probleme mit Männern gehabt. Meistens war sie unglücklich. Ständig war sie im Krankenhaus. Alle möglichen Krankenhäuser. Irgendwann fand sie eines, das ihr half, wieder Mut zu fassen und ihr Leben einigermaßen in den Griff zu kriegen. Und dann trug sie bei uns ein. Sie belegte Kurse, um vielleicht einmal einen guten Job zu kriegen. Sie trennte sich von ihrem Freund. Sie nahm ab, ohne dass sie irgendwelche Ideen einhielt. Sie kümmerte sich um uns, sodass wir Eltern ausgehen und etwas trinken und Brettspiele spielen konnten. Sie ließ uns lange aufbleiben. Sie war die Einzige außer Dad und Mom und meinem Bruder und meiner Schwester, die mir immer zwei Geschenke kaufte. Eines zu meinem Geburtstag, eines zu Weihnachten. Als sie bei uns wohnte und kein Geld hatte, kaufte sie mir immer zwei Geschenke. Und es waren immer die besten Geschenke. Und dann, am 24. Dezember 1982, stand ein Polizist vor unserer Tür. Es hatte stark geschneit und Tante Hellen hatte einen furchtbaren Unfall gehabt. Und der Polizist sagte sogar meiner Mutter, Tante Hellen hätte den Unfall nicht überlebt. Er war ein sehr netter Mensch. Während meine Mutter in Tränen ausbrach, sagte er ihr, dass der Unfall sehr schlimm gewesen sei. Und Tante Hellen sei bestimmt gleich tot gewesen. Sie hatte also keine Schmerzen gehabt. Tante Hellen hatte keine Schmerzen mehr. Der Polizist bat Mom mitzukommen und die Leiche zu identifizieren. Dad war noch im Büro. In diesem Moment kamen mein Bruder, meine Schwester und ich zur Tür. Wir alle trugen Pasihüte. Mom wollte immer, dass sich meine Schwester und mein Bruder auch welche aussetzen. Meine Schwester sah Mom weinen und fragte sie, was geschehen sei. Doch Mom brachte kein Wort heraus. Also rief sich der Polizist aus den Knien nieder und erzählte uns, was geschehen war. Mein Bruder und meine Schwester weinten. Ich weinte nicht. Ich war mir absolut sicher, dass es sich hier um ein Irrtum handelte. Mom bat meinen Bruder und meine Schwester, sich um mich zu kümmern. Und dann gingen sie mit den Polizisten weg. Ich glaube, wir sahen uns fern, aber ich bin mir nicht wirklich sicher. Jedenfalls kam Dad nach Hause, bevor Mom wieder zurück war. Was macht ihr denn für lange für sich da? Wir sagten es ihm. Er weinte nicht. Er fragte aber, ob es uns gut ginge. Mein Bruder und meine Schwester sagten Nein. Ich sagte Ja. Der Polizist hatte sich doch nur geirrt. Es steigerte so stark draußen. Wir sollten da noch etwas richtig erkennen. Dann kam meine Mutter nach Hause. Sie weinte. Und sie sah meinen Vater an und nickte. Dad legte die Arme um sie. In diesem Moment begriff ich, dass sich der Polizist nicht geirrt hatte. Ich weiß nicht mehr genau, was als nächstes geschehen ist. Und ich habe auch nie wirklich danach gefragt. Ich erinnere mich daran, dass wir in die Klinik fuhren. Ich erinnere mich daran, dass ich in einem Zimmer mit hellem Licht saß. Ich erinnere mich an einen Arzt, der mir Fragen stellte und dem ich erzählte, dass Tante Helen die Einzige gewesen war, die mich immer in den Arm genommen hatte. Ich erinnere mich daran, dass ich mit meiner Familie am ersten Weihnachtsfeiertag in einem Wartezimmer saß. Und ich erinnere mich daran, dass ich nicht auf die Beerdigung durfte und dass ich Tante Helen nie lebewohl sein konnte. Ich weiß auch nicht mehr, wie lange es für den Arzt musste und wie lange sie mich von der Schule nahm. Ich weiß nur, dass es ziemlich lange war. Das Einzige, woran ich mich genau erinnere, ist der Tag, ab dem es mir wieder besser ging. Denn an diesem Tag fiel mir wieder ein, was Tante Helen zu mir gesagt hatte, ehe sie im Schnee verschwunden war. Sie zog sich ihren Mantel an und ich reichte ihr die Autoschlüssel, weil ich immer wusste, wo sie waren. Ich fragte sie, wohin sie fuhr. Sie sagte, es sei ein Geheimnis. Doch ich fragte es immer wieder und Tante Helen mochte das. Sie mochte es, wenn ich ihr lächerlich darauf fragte. Nach einer Weile schüttelte sie lächelnd den Kopf und flüsterte mir ins Ohr, ich gehe dein Geburtstagsgeschenk kaufen. Das war das letzte Mal, als ich sie sah. Und ich stelle mir vor, dass Tante Helen jetzt diesen guten Job hat, für den sie immer gelernt hat und dass sie einen netten Mann kennengelernt hat und dass sie ohne Diät all die Funde losgeworden ist, die sie immer loswerden wollte. Egal, was mir meine Mutter und mein Arzt und mein Vater über die Schuld erzählt haben, eines weiß ich ganz sicher. Ich weiß, dass Tante Helen heute noch am Leben wäre, wenn sie mir nur ein Geschenk gekauft hätte, so wie die anderen. Und sie wäre heute noch am Leben, wenn ich nicht im tiefsten Winter geboren wäre. Ich wünschte, es wäre alles anders gewesen. Ich vermisse sie so sehr. Und jetzt muss ich mit dem Schreiben aufhören. Ich bin einfach zu traurig. Alles Liebe, Charlie 3. September, Dezember, 1991 Lieber Freund, einen Tag nach meinem letzten Brief habe ich Der Fänger am Roggen zu Ende gelesen und seither habe ich es noch zwei weitere Male gelesen. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Sam und Patrick kommen heute nach Hause, also werde ich sie wohl kaum treffen. Patrick wird sich irgendwann bei Brad treffen und Sam wird sich mit Craig treffen. Das Aufregende ist, dass ich selbst zum Big Boy fahren kann. Dad sagte, ich dürfte nicht selbst fahren, bevor sich nicht das Wetter bessert. Und gestern hat es sich endlich verbessert. Ich hatte mir eigens für diesen Anlass ein neues Mixtape aufgenommen. Das heißt, das erste Mal am Steuer. Vielleicht bin ich zu sentimental, aber ich stelle mir vor, wie ich, wenn ich einmal alt bin, all diese Mixtapes aufnehmen würde. Ich habe es mir vorgestellt, aber ich stelle mir vor, wie ich, wenn ich einmal alt bin, all diese Mixtapes ansehe und mich an all diese Fahrten erinnere. Als ich gestern das erste Mal allein unterwegs war, fuhr ich zu Tante Helen. Das war auch das erste Mal, dass ich ohne meine Mutter bei ihr war. Und ich gab mir sehr viel Mühe, um mir selbst etwas Besonderes zu machen. Ich kaufte von meinem Weihnachtsgeld Blumen und ich stellte ihr ein Mixtape zusammen und legte es auf ihr Grab. Und ich habe Tante Helen von allem erzählt. Von Sam und Patrick und ihren Freunden. Von meiner ersten Silvesterparty morgen. Von meinem Bruder, der ein Neujahr sein letztes Fußballspiel in der Saison hat. Von meiner Mutter, die geweint hat, als mein Bruder wieder weggefahren ist. Von den Büchern, die ich gelesen habe. Von diesem Lied, Es Liebt. Ich habe ihr erzählt, wie wir uns grenzenlos gefühlt haben und wie ich meinen Führerschein gekriegt habe. Dass mich meine Mutter heimgelegt hat und ich sie dann heimgefahren habe. Und dass der Polizist, der die Prüfung abgenommen hat, nicht einmal seltsam ausgesehen hat oder einen komischen Namen trug. Weswegen mir das Ganze wie ein großer Schwindel vorkam. Dann, als ich Tante Helen auf Wiedersehen sagen wollte, musste ich weinen. Und ich weinte wirklich. Nicht mehr so aus Panik, wie ich es häufig tue. Und da versprach ich Tante Helen, nur noch wegen wichtiger Dinge zu weinen. Weil sonst durch meine ganze Weinerei die Tränen für sie weniger wichtig würden. Und dann sagte ich ihr auf Wiedersehen und fuhr nach Hause. Am Abend las ich noch einmal der Fänger am Roggen. Denn ich wusste, dass ich sonst nur wieder weinen würde. Aus Panik. Ich las, bis ich völlig erschöpft einschlief. Und am Morgen las ich das Buch zu Ende und fing gleich wieder von vorne an. Nur um nicht wieder weinen zu müssen. Das hatte ich Tante Helen fest versprochen. Nur um mir nicht wieder den Kopf zerbrechen zu müssen. So, wie ich es letzte Woche getan hatte. Ich kann mir einfach nicht wieder den Kopf zerbrechen. Nie wieder. Hast du dich je so gefühlt, dass du tausend Jahre lang schlafen willst oder gar nicht mehr existieren willst? Oder dir einfach gar nicht bewusst sein willst, dass du existierst? Vermutlich ist es ziemlich krank, sich das zu wünschen. Aber wenn es mir so geht wie jetzt, dann wünsche ich es mir. Deshalb versuche ich ja, mir nicht den Kopf zu zerbrechen. Ich will nur, dass sich alles zu drehen aufhört und dann, wenn es schlimmer wird, muss ich wieder zum Arzt. Alles Liebe, Charlie.

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